Ich habe nachgedacht. Über Gewalt, Vorbilder,
Miteinander, welches das Beiwort menschliches noch erträgt.
Und ich war auf der Suche nach Vorbildern, männlichen Vorbildern,
jenseits von sitzpinkelnden Söhnen überemanzipierter Mütter und Mega-Machos.
Unsere Generationsaufgabe, denke ich, besteht darin, neue Rollenbilder zu finden,
männliche und weibliche.
Der alte Vertrag zwischen den Geschlechtern funktioniert nicht mehr –
mit diesen Gedanken im Kopf traf ich auf Michel Ruge.
Der Bordsteinkönig wurde 1969 in St. Pauli geboren und erzählt in
seinem gleichnamigen Buch von seiner Kindheit zwischen Gewalt, Sex und Geld.
Ich bin interessiert, der Mensch hatte zuvor einen Ratgeber über Gewalt und Konflikt
„Das Ruge Prinzip“ geschrieben.
Eingeleitet wird es mit folgenden Worten:
„Es gibt keine Tricks! Optimale Selbstverteidigung bedeutet nicht mehr und nicht weniger,
als möglichst schadensfrei aus gefährlichen Situationen herauszukommen.“
Er erklärt, dass er wegen der großen medialen Aufmerksamkeit, die er für seine
persönlichen Erfahrungsberichte in dem Buch bekam, begann seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.
Dann liest er vor.
Der „Kiez“ aus Kinderperspektive beschrieben. Wertfrei, ehrlich, lebendig,
da hat sich keiner Mühe gegeben etwas anders anzumalen als es ist.
Und es wird leise, alle lauschen- ich beobachte das Publikum.
Eine Frau geht. Sie kann die Geschichte zwischen Wörtern wie Pimmel
und dem nassen rosa zwischen den Beinen eines kleinen Mädchens nicht erkennen.
Eine Geschichte von Liebe, Abenteuer und der uns immer bleibenden Möglichkeit der Entscheidung.
Egal woher wir kommen, welche Chancen wir haben, es ist an uns sie zu erkennen und zu nutzen.
Michel ist keine Lude geworden, er ist immer noch romantisch
und führt anscheinend ein glückliches Leben.
Als ich ihn frage wie es kommt, sagt er Glück, ein paar Menschen getroffen zu haben
die ihm zeigten wie es geht.
Dann möchte ich noch wissen was er zur heutigen Kindererziehung meint?
„Naja, Kinder sehe ich vor allem auf dem Spielplatz, 30 Stück von 150 Erwachsenen bewacht,
ich glaube nicht, das die Zeiten so viel gefährlicher geworden sind.
Ich denke man soll die Kinder ein wenig frei lassen, erst mal abwarten was passiert,
wenn einer dem anderen die Schaufel auf den Kopf haut.
Sie nicht so Entkörperlicht aufwachsen lassen, das ist falsch, denke ich.“
Ich habe ihm den Artikel geschickt, mit der Bitte mich zu korrigieren,
sollte ich ihn falsch zitiert haben oder so was.
Und er schrieb zurück „Super, Lust auf Kaffee oder Brotzeit?“
Wow, okey, dann treffe ich mich jetzt mit dem Bordsteinkönig
(gar nicht so einfach, Auspuff kaputt, soll nach Schwabing kommen, Babysitter
(Danke lieber Neffe und Deutsches Museum), kaum noch Sprit, kein Geld)
Ich frage ihn ob er nicht doch wieder aufs Land raus kommt.
Er sagte: „Nein und ich lade dich natürlich ein und Geld für Sprit kann ich dir auch geben.“
Ich bin stolz, dass er mag wie ich schreibe und außerdem gar nicht schlecht,
für einen Mann der auf Facebook postet: Frauen sind nicht auf der Welt um verstanden zu werden,
sondern um geliebt zu werden.
Ich bin aufgeregt, komme an und platze erstmal in irgendeine Privat-Feier.
Dann findet er mich. Wir sitzen in dem normalen Gastro-Bereich.
Ich rede drum herum, habe alle meine Fragen vergessen.
Er erzählt, worüber ich verspreche nicht zu schreiben.
Und nach einiger Zeit hat sich etwas gedreht. Ich rede, er möchte wissen.
Wir sind uns einig, das Gespräch sollte auf dem Hotelzimmer fortgesetzt werden.
Auf dem Weg dahin klettere ich über die Kabeltrommeln einer Filmproduktion.
Das Hotel gehört einem Freund von Michel. Mir drängt sich der Gedanke auf,
ob das ne gute Idee ist mit diesem Testosteron-Monster aufs Hotelzimmer zu gehen
(sollte erwähnen, dass ich nicht gerade unattraktiv bin).
Wir sind da, kleines Zimmer, Tür zu, Schlüssel gedreht, zwei mal.
Ich entscheide mich zu vertrauen.
Wie es die Situation erfordert sprechen wir von Männern und Frauen
und darüber welche Beziehungsmodelle funktionieren. Von Sehnsucht nach Geborgenheit und er fragt:
„Wie viele glückliche Paare kennst du?“ Ich fange an zu zählen und er sagt:
„Nein die Frage lautet anders, was möchtest du nachmachen?“
Bilder vom Reihenhaus, Isolation und die zwei Tassen Kaffee lösen einen
beschleunigten Herzschlag und latente Panik aus.
„Ich kenne nur ein Paar, das eine Beziehung lebt, die ich nachmachen möchte.“ antworte ich.
„Kann man ja mal drüber nachdenken“ sagt er und wirkt dabei weder frustriert noch desillusioniert.
Er ist neugierig und lebensbejahend und ich empfinde ihn als weich und sensibel,
aber auch ich habe mich als Jugendliche in Randgruppen bewegt.
Ich bin misstrauisch „Du trägst Masken, du verbietest dir die Wut.“
„Ja, natürlich.“ 1:0 für ihn.
Ich ändere meine Strategie.
„Das ist langweilig, ich lass sie weg und bitte dich aus Respekt davor es auch zu tun.“
„Da musst du dir aber Mühe geben.“
Das mache ich, erzähle von Tantra. Das will er genauer wissen.
Dauert nicht besonders lange und wir sitzen uns an den Händen haltend gegenüber,
blicken uns in die Augen und atmen.
Ich merke das eine Art von Nähe entsteht, die Platz schafft für einen sehr ehrlichen Austausch.
Wir sprechen von unseren Kindern, ich von meiner Angst zu wiederholen
was meine Eltern falsch gemacht haben, wenn man das überhaupt so sagen kann.
Michel tröstet mich: „Es geht um Vertrauen, du weisst doch genau
was dich dazu gebracht hat von zu Hause weg zu gehen. Machs anders und lass gleichzeitig los.
Es gibt für jeden einen Weg zu gehen und wir sind nicht Gott uns anzumaßen, wie der unserer Kinder sein soll.“
Wahrscheinlich hat er recht und es ändert nicht so viel, sich den Kopf zu zerbrechen
und schlechtes Gewissen ist bestimmt auch kontraproduktiv
und auch wenn die Worte, die er spricht, nicht neu für mich sind,
haben sie eine andere Kraft aus seinem Mund.
Wir grasen alle möglichen Themen ab und da wir uns beide sehr wohl
in der Gesellschaft von Menschen fühlen, die keinen Platz in der Gesellschaft finden,
landen wir bald bei alternativen Lebensformen. Ich erzähle ihm von meinem Plan,
in einen Zirkuswagen zu ziehen und er wird ganz euphorisch und möchte auch einen haben.
Ich stell mir das kurz vor (sollte erwähnen das er auch nicht unattraktiv ist) und muss lachen.
Die Eisprinzessin und der Bordsteinkönig in den Zirkuswägen mit Wörtern gegen den Rest der Welt.
Alles nur Quatsch und dass er immer flirtet ist wahrscheinlich ne Kiez-Kindheitsangewohnheit
und trotzdem freue ich mich, dass er mir Lust zum Träumen macht.
Jetzt ist wohl der richtige Moment zuzugeben, das ich Bordsteinkönig noch gar nicht ganz gelesen habe
und deshalb höre ich jetzt auf zu schreiben, sonst gibt es bald noch ein Buch über Michel Ruge
und eigentlich wollte ja das aktuelle vorstellen, und lesen.
Das könnt ihr auch tun. Für etwa 10,- € hier.